Luc Ciompi - Psychiater und Autor

Rezension des Buches
"Weder Tag noch Stunde. Nachdenken über Sterben und Tod"
von Klara Obermüller, Huber-Verlag (2006)

für das Schweizer Archiv für Neurologie und Psychiatrie (Januar 2008)

"Ein wichtiges, ausserordentliches und eminent nützliches Buch, das keineswegs nur von Kranken und ihren Angehörigen, sondern auch von Gesunden, und eigentlich von jedermann gelesen werden sollte!" - so könnte man den Gesamteindruck zusammenfassen, wenn man das Buch von Klara Obermüller, der Witwe des 1978 an Krebs verstorbenen Schriftstellers Walter Matthias Diggelmann aus der Hand legt. Sie geht von diesem einschneidenden Erlebnis aus und berichtet über weitere Menschen, die sie bis zum Tod begleitet hat. Mehr noch als mit dem Erleben der Sterbenden, von dem uns nach ihrer Ansicht ein letztlich kaum zu überbrückender Graben trennt, beschäftigt sie sich dabei auch mit dem, was deren Nächsten und Angehörigen widerfährt - mit ihrer Trauer, ihrer Einsamkeit und Ohnmacht, ihren Schuld- und Überforderungsgefühlen, bis hin zu manchmal auftauchenden Gefühlen von Feindseligkeit. Das Buch ist, so merkwürdig dies bei einem solchen Thema auch scheinen mag, enorm spannend geschrieben. Die Sprache ist dicht, klar, eindringlich und, so will mir scheinen, ohne jeden Abstrich authentisch; man möchte immer nur zitieren (zum Beispiel: "Einen Menschen sterben sehen ist unendlich schwer: einfach da sein, nichts mehr tun können, den andern gehen lassen. Wohin genau, wer weiss es?" oder "Meiner Ansicht nach ist es wichtig, dass der Patient Bescheid weiss über seinen Zustand und dass man die letzte Zeit, die einem noch bleibt, nicht mit Lügen zubringt."). Allein die Kapitelüberschriften sprechen Bände: "Der lange Weg" - "Zu Hause sterben" - "Die Wahrheit ist dem Menschen zumutbar" - "Am Ende der ärztlichen Kunst" - "Ars moriendi" - "Therapie der Ehrlichkeit" - "Sprache suchen für das, was uns stumm macht" - "Es gibt nicht nur die Krankheit, es gibt auch das Leben" - "Der Tod ist gross. Wir sind die Seinen". Rilke, Camus, Celan, Elisabeth Kübler-Ross, Peter Noll und viele andere, die sich über Tod und Sterben Gedanken gemacht haben, kommen ebenfalls zu Wort - ohne jedes literarische Getue. Wohltuend ist auch, dass die Autorin den Tod nicht mystifiziert, nicht "auf die andere Seite" schauen will, sondern sich vorab mit dem Leben beschäftigt, zu welchem der Tod unabdinglich gehört. Trotz - oder gerade wegen - dieser Zurückhaltung fehlt indes eine "spirituelle Dimension" keineswegs. Klara Obermüller geht keinem Problem aus dem Weg, nicht der Verdrängung und gleichzeitigen Banalisierung des Todes in den Medien, nicht seiner Vertechnisierung in der heutigen Spitzenmedizin, und auch nicht seiner Industrialisierung in den Todeslagern des zweiten Weltkrieges. Sie plädiert für das Sterben zu Hause, für den langen gemeinsamen Weg bis zur Annahme des Todes, ohne die Notwendigkeit von Zeiten der (z.B ärztlichen) Auflehnung zu leugnen. "Ich begriff, dass wir etwas verloren haben, als wir den Tod aus unserem Leben verbannten. Meine eigenen Erfahrungen mit dem Sterben naher Menschen haben mich gelehrt, wie hilfreich ein Abschied am Sterbebett, wie heilsam ein gemeinsames Trauern, ein Reden und Erinnern und Geschichtenerzählen für diejenigen sein können, die weiterleben müssen" - Noch einmal: ein Buch, das ich jedem Betroffenen empfehlen möchte - und wer wäre nicht Betroffene(r), früher oder später?

Luc Ciompi

 

© Luc Ciompi - www.ciompi.com - Zuletzt bearbeitet: 22.02.2015